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- Entstehungsgeschichte

Zur Entstehung und Entwicklung der Gedenkstätte Wolfenbüttel

Zur Entstehung und Entwicklung der Gedenkstätte Wolfenbüttel

 

Helmut Kramer, November 2010

 

In fast allen Gedenkstätten der Bundesrepublik erfährt man auch etwas über ihre Entstehungsgeschichte. Nicht so in Wolfenbüttel. Dabei ist diese Geschichte hier besonders aufschlussreich dafür, wie die Juristen nach dem Ende des Terrorregimes mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umgegangen sind. Weil diese Vorgeschichte in der Wolfenbütteler Ausstellung fast ganz fehlt, soll das Fehlende hier nachgeholt werden, wenigstens in einem ersten kurzen Abriss:

Errichtet, mittels Erweiterung und Umbau eines schon im 19. Jahrhundert entstandenen Funktionsgebäudes, wurde die Hinrichtungsstätte auf Weisung des Reichsjustizministeriums in Berlin. Im Rahmen der Planung des verbrecherischen Angriffskrieges der Nationalsozialisten hatte man spätestens im September 1937 die zu erwartende sprunghafte Erhöhung des „Hinrichtungsbedarfs“ in dem bevorstehenden Krieg erkannt. So entstand im Jahre das einzige freistehende Hinrichtungsgebäude in Deutschland, ausgestattet mit einem mit Uhren versehenen Glockenturm, dessen Glocken bis zum Jahre 1942 frühmorgens vor den Hinrichtungen geläutet wurden, eine makabere Assoziation an kirchliche Sakralbauten.

Die Geschichte des Ortes nach Kriegsende ist eine Geschichte der Gleichgültigkeit und der Verdrängung. Auf der Suche nach einem würdigen Umgang mit dem Gebäude nach dem Ende des Terrorregimes fiel der Justizverwaltung nichts Besseres ein, als darin eine „gefängniseigene Entseuchungsanstalt zur Organisation eines praktischen Seuchenbekämpfungsdienstes“ einzurichten. Die Stätte, an der Widerstandskämpfer und andere Opfer des NS-Regimes ihren letzten Gang antreten mussten, war nun zur „Entlausungsanlage“ geworden. Im Übrigen erblickten meist von weit angereiste Angehörige am Ort der letzten Stunde ihrer Geliebten nichts anderes als zu desinfizierende Gefangenenmatratzen und abgestelltes Gerümpel.

 

Der Entschluss zum Abriss des Hinrichtungsgebäudes

Anfang der 80er Jahre beschloss das Niedersächsische Justizministerium, das Problem gegenstandslos zu machen. Für Ministerialbeamte, die allein nach der wirtschaftlichen Verwendbarkeit des Gebäudes fragten, war das Objekt ohne Wert. Dem Ministerium lästig geworden waren überdies zwischenzeitlich erhobene Forderungen nach einem Minimalgedenken an die Opfer, nämlich durch die sichtbare Anbringung einer Gedenktafel. Dieser Forderung kam man schließlich nach, allerdings mit einem das Unrecht fatal verhüllenden Text (dazu weiter unten). Überdies gelang es, die Tafel im Inneren der Anstalt zu verstecken. Doch musste man allmählich mit weitergehenden Forderungen und Vorschlägen zum Gedenken an die Opfer rechnen. Auch bestand die Gefahr, dass die Öffentlichkeit darauf aufmerksam wurde, dass die Täter, darunter auch einige, die für die in Wolfenbüttel vollstreckten Urteile direkt verantwortlich waren, bis weit in die sechziger Jahre in Braunschweig und im Hannoveraner Justizministerium weiter amtiert und Karriere gemacht hatten. Nachdem es in den ersten dreieinhalb Jahrzehnten nach dem Krieg der Justiz gelungen war, allein sich selbst als Opfer der Diktatur hinzustellen, wurden in der Wissenschaft und unter kritischen Juristen immer mehr Stimmen laut, die eine rückhaltlose Aufarbeitung der Justizverbrechen forderten.

Ausgerechnet in Braunschweig hatte im Jahre 1980 – für die gesamte Bundesrepublik erstmalig – mit großem Publikumsinteresse die von Helmut Kramer mit der Gewerkschaft ÖTV organisierte große Vortragsreihe „Braunschweig unterm Hakenkreuz“ zu dem Verhalten der Funktionseliten in den Jahren 1933 bis 1945 stattgefunden, mit Schwerpunkt NS-Justiz, mit einem ungewöhnlichen Echo in der Bevölkerung, allerdings zum Unwillen konservativer Juristen, auch im Hannoveraner Justizministerium. In dieser Situation beschloss der niedersächsische Justizminister, die unangenehme Vergangenheit durch eine völlige Beseitigung des Hinrichtungsgebäudes zu entsorgen. Den Anlass für die Entscheidung gaben „Sachzwänge“, nämlich Platzbedarf für ein angeblich dringend benötigtes neues Wirtschaftsgebäude, für das sich innerhalb des weiträumigen Anstaltsgeländes kein anderer Platz finden lasse.

Gegenwind aus der breiten Öffentlichkeit gab es zunächst kaum, mit Ausnahme eines Artikels in der Frankfurter Rundschau vom 12. April 1985.

In den Jahren 1982 bis 1986 in der von kritischen niedersächsischen Richtern und Richterinnen herausgegebenen Zeitschrift „ÖTV in der Rechtspflege“ veröffentlichte Berichte mit der Forderung, das Hinrichtungsgebäude endlich in eine Erinnerungs- und Dokumentationsstätte umzuwandeln, fanden im Ministerium kein Gehör. Im Gegenteil: Auf eine Anfrage der niedersächsischen SPD-Fraktion bekräftigte Justizminister Walter Remmers am 7. Oktober 1985 die Abbruch-Absicht vor dem Niedersächsischen Landtag. Wegen des beengten Geländes würde „es sich nicht vermeiden lassen, das Gebäude, in dem sich die Hinrichtungsstätte befand, abzureißen“ (Antwort der niedersächsischen Landesregierung vom 07.10.1985 auf eine Kleine Anfrage der SPD-Fraktion, Nds. Landtag, 10. Wahlperiode, Drucksache 10/4946, S. 3).

Anstelle der zum Abriß bestimmten Hinrichtungsstätte ließ das Ministerium eine Gedenktafel anfertigen. Der Text dieser noch vorhandenen Gedenktafel, ein bleibendes Dokument der Geschichtsvergessenheit und Selbstentlarvung, lautet:

 

Die Rettungsaktion Helmut Kramers

Die einzige Möglichkeit, den drohenden Verlust des einzigartigen Denkmals der Justizgeschichte vielleicht doch noch abzuwenden, bot eine Einschaltung der Verbände, insbesondere der ausländischen Opfer und ihrer Hinterbliebenen. Dies geschah mit einer aufwendigen Aktion, mit der Helmut Kramer sich in zahlreichen, in die wichtigsten europäischen Sprachen übersetzten Schreiben an die Organisationen und ehemaligen Widerstandskämpfer in Frankreich, Belgien und zahlreichen anderen Ländern wandte, mit einem überwältigendem Echo: Mehr als 60 Protestschreiben ausländischer Organisationen und angesehener Persönlichkeiten des Auslandes gingen beim Bundespräsidenten und in der niedersächsischen Staatskanzlei ein. (siehe Text.) Nun beschäftigten sich auch die Medien des In- und Auslandes mit dem Skandal. Schließlich legte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker dem niedersächsischen Justizministerium nahe, die Abbruchpläne zu überdenken. Endlich, im Oktober 1986, trat die Sinnesänderung des Ministers ein. Das Ergebnis war der Beschluss der Landesregierung, das Hinrichtungsgebäude zu erhalten und darin eine Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus einzurichten.

 

Die Entwicklung der Gedenkstätte seit 1990/1999

Eröffnet wurde die Gedenkstätte im Jahre 1990. Neben dem eindrucksvollen Hinrichtungsgebäude mit dem beklemmend großen Hinrichtungssaal und den Wartezellen für die zum Tode Verurteilten gibt es inzwischen in dem benachbarten aus dem 17. Jahrhundert stammenden Renaissancegebäude „Philippsberg“ eine im Jahre 1999 eröffnete Ausstellung auf einer größeren Fläche.

Zum Angebot wichtiger Gedenkstätten, insbesondere auch Gedenkstätten zu Justiz und Verwaltung des Dritten Reiches (z. B. Gedenkstätte „Roter Ochse“ in Halle oder Villa Ten Hompel in Münster) gehört es, neben den dem ersten Überblick dienenden Schautafeln, auch Biographien und Aktenordner, sog Themenordner, bereit zu halten, die ergänzende Informationen und Dokumente zu den dargestellten Vorgängen und zu den Hintergründen enthalten. Dies ist auch das Konzept der Wolfenbütteler Ausstellung. Aufmerksamen Besuchern mit Fragebedarf fallen dazu die vielen leeren Fächer unterhalb der Schautafeln auf, sog. Schuber, bestimmt zur Aufnahme von Aktenordnern. Bei der Eröffnung der Ausstellung im Jahre 1999 hatte der Gedenkstättenleiter die alsbaldige Anfertigung der notwendigen Opferbiographien und Täterbiographien angekündigt. Viel ist seitdem nicht geschehen. Es fehlen nicht nur viele wichtige Opferbiographien. Über die Täter können sich die Ausstellungsbesucher nur anhand dürftiger vier Täterbiographien informieren. Der für die Aufnahme von 32 Täterbiographien bestimmte „Täterturm“ stand die ganzen Jahre über leer. Dieses zentrale Ausstellungsstück ließ der Gedenkstättenleiter ungefähr in den Jahren 2007/2008 verschwinden, ohne die die Arbeit des Gedenkstättenleiters begleitende Kleine Kommission zu befragen. Interessierte Ausstellungsbesucher vermissen auch notwendige Themenordner, um sich über die wichtigsten Verbrechenskomplexe der NS-Justiz zu unterrichten. Das gilt vor allem für die Mitwirkung der Beamten des Reichsjustizministeriums und weiterer Juristen an den großen Massenverbrechen der Justiz. Insbesondere zu dem Beitrag der Juristen zur „NS-Euthanasie“, zum Anstaltsmord an Geisteskranken, zu der Auslieferung von Strafgefangenen an die Gestapo zur „Vernichtung durch Arbeit“, auch zu dem Beitrag der Juristen zur Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der Juden. Die Wolfenbütteler Gedenkstätte zur NS-Justiz darf nicht länger das Stiefkind der Stiftung Niedersächsischer Gedenkstätten bleiben.

Zum Auftrag einer Gedenkstätte gehört auch die Durchführung von Tagungen. Solche Tagungen, insbesondere mehrtägige Tagungen für Richter und Staatsanwälte und Seminare haben deshalb auch in Wolfenbüttel von ungefähr 1999 bis 2003 regelmäßig stattgefunden, alljährlich auch mehrtägige Seminare für Justizreferendare, die dazu schwerpunktweise in Hannover, Göttingen, Lüneburg und Oldenburg zusammengezogen wurden. Seit dem Jahr 2004 hat der Gedenkstättenleiter aus unbekannten Gründen diese Tagungen ausfallen lassen.

Andere Gedenkstätten haben inzwischen erkannt, dass es nicht genügt, der Opfer zu gedenken. Weil das Leid der Opfer stets auf das von den Tätern begangene Unrecht verweist, bemühen sie sich um eine stärkere Einbeziehung auch des Täteraspekts. Dies auch mit Gegenwartsbezug im Sinn einer Erziehung zur Achtung der grundlegenden Menschenrechte. So hat die KZ-Gedenkstätte Neuengamme im Jahre 2010 eine Tagungsreihe mit Tagungen und pädagogischer Werkstatt zum Thema „Menschenrechtsbildung und NS-Geschichte“ begonnen, u. a. mit einem Vortrag „Legalisierung und Verrechtlichung von Unrechtshandeln im Nationalsozialismus und von Menschenrechtsverletzungen heute“. Eine Gedenkstätte zur NS-Justiz könnte ein ganz besonderer Lernort sein, auch hinsichtlich des Adressatenkreises praktizierender und angehender Juristen. Die Gefahr, dass Juristen das Rechtsanwendungsinstrumentarium missbrauchen und ihre Aufgabe, sich schützend vor die Bürger zu stellen, nach wie vor in aller Welt missbrauchen können. Die Möglichkeit, über ein Konzept zur Umsetzung dieser pädagogischen Aufgabe gemeinsam nachzudenken, hat der Gedenkstättenleiter sich allerdings verbaut. Im Einvernehmen mit dem jetzigen Stiftungsgeschäftsführer hat er den zu seiner Beratung eingesetzten wissenschaftlichen Beirat, die Kleine Kommission, boykottiert. Er meidet den Kontakt mit anderen Rechtshistorikern, wie auch den Besuch von Tagungen zur nationalsozialistischen Justiz. Mit Ausnahme von routinemäßig durchgeführten Führungen durch die Ausstellung und der von den pädagogischen Mitarbeitern des Gedenkstättenleiters geleisteten Schülerarbeit ist die Arbeit der Gedenkstätte seit Jahren zum Stillstand gekommen.

Eine Gedenkstätte soll über den Lokalbereich hinaus informieren, also nicht allein vor Ort, also durch ihre Ausstellung, mit Führungen und Kontakten mit den kommunalen Schulen. Deshalb gibt es in der Bundesrepublik sonst keine Gedenkstätte, die über die Geschehnisse 1933 bis 1945 und über die Aufarbeitung nicht mit Veröffentlichungen informiert. Allein die in Braunschweig benachbarte viel kleinere Gedenkstätte KZ-Außenlager Schillstraße hat einschließlich des ihrer Gründung vorausgegangenen Arbeitskreises Andere Geschichte an die 40 Bücher, Broschüren und Faltblätter herausgebracht. Die Wolfenbütteler Gedenkstätte hat in den nun bald 21 Jahren ihres Geschehens keine einzige Veröffentlichung vorgelegt, mit Ausnahme des von einer Arbeitsgruppe erarbeiteten Katalogs der Ausstellung. Das etwa aus dem Jahre 1996 stammende, inhaltlich und graphisch unzulängliche kleine Faltblatt ist seit vielen Jahren vergriffen. Seine seit zehn Jahren angemahnte Bearbeitung steht noch immer aus.

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