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Aufarbeitung der Wehrmachtjustiz

 Die Aufarbeitung einer Unrechtsjustiz erfordert die Auseinandersetzung mit drei Komplexen:

  • die Erforschung der Praxis der Wehrmachtjustiz
    In den ersten Nachkriegsjahrzehnten galt die Wehrmachtjustiz als über jeden Verdacht erhaben. Im Unterschied zum Volksgerichtshof hätten die Wehrmachtrichter sich von jeglichen politischen Vorgaben freigehalten und Milde walten lassen, wo es das Gesetz irgendwie ermöglichte. Allerdings waren es die Akteure selbst, die die Deutungshoheit übernommen hatten. Bei der Wahl eines geeigneten Verfassers zur Geschichte der Wehrmachtjustiz betraute das Institut für Zeitgeschichte den ehemaligen Luftwaffenrichter Otto Peter Schweling, nun Oberstaatsanwalt bei der Bundesanwaltschaft, mit der Arbeit. Ihm wurde von einem Kreis ehemaliger Kollegen der Wehrmachtjustiz zu gearbeitet, die dazu sogar eine Vereinigung gebildet hatten. Nach dem Tod Schwelings übernahm der ehemalige Militärjurist Professor Erich Schwinge, selbst durch mehrere Todesurteile belastet, die Überarbeitung des von Schweling vorgelegten Manuskripts und veröffentlichte es 1977 (Otto Peter Schweling, Die deutsche Militärjustiz, bearbeitet und herausgegeben von Erich Schwinge, Marburg 1977). Dieses Hohelied der Militärjustiz diente jahrelang rechtskonservativen Politikern als Folie für die Verteidigung der Urteile der Militärjustiz. Immerhin erteilte die Bundesregierung im Jahre 1984 dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) den Auftrag, das Wirken der Wehrmachtjustiz aufzuhellen (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN vom 26.11.1986, BT-Drucksache 10/6566). Der Auftrag ist bis heute nicht erfüllt worden, auch in der vom MGFA herausgegebenen 10-bändigen Reihe „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ hat das MGFA keinen Platz für die Wehrmachtjustiz gefunden. Das blieb der nebenamtlichen Arbeit insbesondere von Manfred Messerschmidt überlassen (erstmals in der Festschrift für Martin Hirsch 1981). Es folgte u. a. das Buch von Manfred Messerschmidt und Fritz Wüllner, Die Wehrmachtjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende. Baden-Baden 1987. Die Voraussetzungen zur Aufklärung einer breiteren Öffentlichkeit wurden mit der am 21.06.2007 eröffneten Wanderausstellung zur Wehrmachtjustiz geschaffen (vgl. auch den von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas dazu im be.bra verlag herausgegebenen Ausstellungskatalog).
  • die Prüfung der Verantwortlichkeit der Wehrmachtrichter
    Der Versuch, die Wehrmachtjuristen zur Verantwortung zu ziehen, ist niemals ernstlich versucht worden. Von den wenigen gegen Kriegsrichter eingeleiteten Strafverfahren ist kein einziges mit Erfolg zu Ende geführt worden. Kein einziges der rund 30.000 von den Wehrmachtgerichten verhängten Todesurteilen wurde gesühnt (vgl. Helmut Kramer, Karrieren und Selbstrechtfertigungen ehemaliger Wehrmachtjuristen nach 1945, in: Wolfram Wette (Hg.): Filbinger. Eine deutsche Karriere, S. 99 ff.). Die meisten Wehrmachtjuristen konnten in der Bundesrepublik ihre Karrieren fortsetzen, viele von ihnen gelangten in hohe Schlüsselstellungen der bundesdeutschen Justiz. Ihr Ansehen stand in einem hohen Kurs. Der durch die Mitwirkung an der Formulierung von Unrechtsgesetzen und durch viele Todesurteile besonders belastete Generalrichter Dr. Erich Lattmann war „für Strafsachen dadurch besonders qualifiziert, dass er seit dem 1. März 1934 bis zum Zusammenbruch in der Heeresjustiz beschäftigt war, und zwar seit 1. Oktober 1942 als Reichskriegsgerichtsrat. Diese seine mehrjährige Tätigkeit am Reichskriegsgericht dürfte ihn für ein Mitglied des Strafsenates des Bundesgerichtes besonders qualifizieren“ (Beurteilung des OLG-Präsidenten in Celle, nach Kramer, ebenda S. 109).
  • die Beseitigung des Unrechts und Wiedergutmachung
    Besonders lange Zeit verging mit der den Opfern geschuldeten Aufhebung der Unrechtsurteile. Diese Aufgabe stellte sich zwangsläufig von Anbeginn allen Gerichten, die es mit Entschädigungsfragen im Rahmen der Wiedergutmachungsvorschriften zu tun hatten. Die Vorfrage, nämlich ob der betreffende Soldat zu Unrecht verurteilt worden ist, wurde von den Sozialgerichten bis 1991 verneint. Erst mit einem Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts vom 11. September 1991 wurde der Witwe eines hingerichteten Wehrmacht-Deserteurs eine Witwenrente zuerkannt, mit der Begründung, die Todesurteile der Wehrmachtgerichte gegen Deserteure und Überläufer seien offensichtlich unrechtmäßig.

    Der Gesetzgeber reagierte weiterhin nur zögerlich. Am 29. August 1990 lehnte die Bundesregierung die von der Fraktion DIE GRÜNEN gestellte Forderung ab, zu den gegen Deserteure und „Wehrkraftzersetzer“ verhängten Todesurteilen eindeutig Stellung zu nehmen. Es bedürfe einer Prüfung jedes einzelnen Falles (Antwort der Bundesregierung auf die große Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN vom 26. November 1986, Drucksache 10/6566). Dasselbe Schicksal widerfuhr dem Antrag der Bundestagsfraktion der SPD vom 30. Januar 1995, die wegen Desertion, „Wehrkraftzersetzung“ und Kriegsdienstverweigerung ergangenen Urteile aufzuheben (Antrag der SPD vom 30. Januar 1995, in: Wolfram Wette (Hg), Deserteure der Wehrmacht, S. 183 f.). Das Unrechtsaufhebungsgesetz von 1995 beschränkte sich im Wesentlichen auf die Aufhebung der Unrechtsurteile des Volksgerichtshofs und der Sondergerichte. Auch in dem Unrechtsaufhebungsänderungsgesetz von 2002, das sonst alle anderen Opfer der Wehrmachtjustiz rehabilitierte, blieben die nach § 57 Militärstrafgesetzbuch, also gegen „Kriegsverräter“ verhängten Todesurteile ausdrücklich ausgeschlossen.