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Zweierlei Maß

Zweierlei Maß im Resozialisierungsrecht

Der Resozialisierungsgedanke – wonach jedem, der gestrauchelt ist, eine Chance gegeben werden muß – gehört zu den obersten Grundsätzen unseres Strafrechts, und es ist eine arge politische Fehlentwicklung, daß der Strafvollzug trotz gesetzlicher Verpflichtung heute so wenig für die Resozialisierung tut.

Der verstorbene baden-württembergische Ministerpräsident wird von seinen Anhängern noch immer damit verteidigt, daß er doch nach dem Krieg so viel für sein Land getan habe. Damit erübrige sich jede Frage nach seinem Verhalten als Kriegsrichter.

Richtig ist, daß auch der schlimmste Täter nach seiner Verurteilung Anspruch auf Wiedereingliederung hat. Müssen der Verzeihung nicht aber Reue und Einsichtsbereitschaft vorausgehen? Auch das ist ein sowohl strafrechtliches als auch christliches Prinzip: Absolution erfordert ein Eingeständnis der Schuld. Von Selbstkritik und Einsicht war bei Filbinger aber nie etwas zu spüren. Kein Wort des Bedauerns über den von ihm zu verantwortenden Tod Unschuldiger ist über seine Lippen gekommen. Mit seinem „pathologisch guten Gewissen“ (Erhard Eppler) hat er auf der Richtigkeit seiner Todesurteile bis zuletzt beharrt: „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.“

Daß Filbinger es daran hat fehlen lassen, hinderte ihn nicht daran, auch nach seinem Rücktritt als Ministerpräsident weiterhin in wichtigen Ämtern tätig zu werden, mit ungeschmälerter Ministerpräsidentenpension. Genau die Selbstkritik und Einsicht, zu der er sich nicht aufraffte, wird jetzt in einem besonders hohen Maß, nämlich über das vorhandene Eingeständnis der Schuld hinaus, von einem gefordert, der nach 24 Jahren Haft in Baden-Württemberg endlich wieder in die Gesellschaft aufgenommen werden möchte: Christian Klar. Von ihm wird als Voraussetzung für eine Begnadigung sogar verlangt, er müsse sich zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung bekennen, dürfe nicht auf ihren Niedergang hoffen. Der baden-württembergische Justizminister Ulrich Groll hat die Kritik Klars am kapitalistischen System zum Anlaß genommen, die Entscheidung des Bundespräsidenten über eine Begnadigung zu erschweren. Er hat selbst die mit dem Ziel, den Übergang in die Freiheit vorzubereiten und zu erleichtern, bereits vorgesehenen Hafterleichterungen gestoppt – rechtswidrig, wie ihm das Landgericht Karlsruhe jetzt bescheinigt hat.

Darf man hier von zweierlei Maß reden? Oder ist unsere Justiz immer über einen solchen Vorwurf erhaben?

Der Verzeihungs- und Versöhnungsgedanke gilt übrigens auch für nichtstrafrechtliche Verirrungen wie zum Beispiel die, einen NS-Schreibtischtäter als „Gegner des Nationalsozialismus“ zu einem Ehrenmann zu erklären, wie es der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger getan hat. Hätte er nach der massiven und begründeten öffentlichen Kritik diese und andere nachweislich unrichtigen Behauptungen über Filbinger alsbald zurückgenommen und auch im Kreis seiner für die Trauerrede mitverantwortlichen Berater bis in die Reihen des Studienzentrums Weikersheim hinein aufgeräumt, hätte man ihm eine Chance geben können. Tatsächlich hat er erst nach vielen Tagen und angesichts des ihm unmittelbar drohenden Amtsverlusts die Notbremse gezogen. Wer so lange auf einem Irrweg beharrt und als Opportunist erst dann um Entschuldigung bittet, wenn ihm ein empfindlicher Karriereknick droht, hat jeden Anspruch darauf verwirkt, daß ihm verziehen wird. Ein solcher Politiker hat nicht nur – worauf selbst die kritische Presse vor allem abzustellen weiß – die Fähigkeit zum „Krisenmanagement“ vermissen lassen, sondern, schlimmer noch, die charakterliche Qualifikation zur Ausübung eines solchen verantwortlichen Amtes.

Helmut Kramer, Wolfenbüttel, 25.04.2007

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