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Aufforderung zur Einzelfalllösung von Amts wegen

DR. HELMUT KRAMER
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4. Juni 2009


Frau
Brigitte Zypries
Bundesministerin der Justiz
11015 Berlin

 

Rehabilitierung der „Kriegsverräter“

 

Sehr geehrte Frau Ministerin,

angesichts der Möglichkeit, dass der Bundestag eine pauschale Rehabilitierung der wegen Kriegsverrat Verurteilten ablehnen sollte, rege ich an, alles Erforderliche und Mögliche zu veranlassen, damit die  sog. Einzelfalllösung (§ 1, 6, 7, 8 Unrechts-aufhebungsgesetz vom 25.8.1998, BGBl. Teil I ,  S. 2501) praktisch durchführbar wird.

Begründung

 

Bei den Verhandlungen des Deutschen Bundestages über den von der Fraktion Die Linke gestellten Antrag zeichnet sich die Möglichkeit ab, dass die beantragte pauschale Rehabilitierung der „Kriegsverräter“ abgelehnt wird.

Damit die Unrechtsurteile nicht verewigt werden, muß dafür gesorgt werden, dass die Möglichkeit einer Urteilsaufhebung nach Art. 1, § 1, 6, 7, 8 des Unrechtsaufhebungsgesetzes vom 25.8.1998 für die Betroffenen und die Staatsanwaltschaften praktisch durchführbar ist.

1.)
Bislang steht die Einzelfallprüfung nur auf dem Papier. Für die allermeisten Hinterbliebenen gibt es praktisch unüberwindbare Schwierigkeiten: Den wenigstens Hinerbliebenen – die Verurteilten sind inzwischen wohl sämtlich verstorben – ist die Möglichkeit einer Antragstellung nach dem Unrechtsaufhebungsgesetz bekannt. Offensichtlich hat bislang auch keine einzige Staatsanwaltschaft von der naheliegenden Möglichkeit Gebrauch gemacht, mit den Angehörigen von Verurteilten Fühlung aufzunehmen, um sie auf die Möglichkeit einer Antragstellung hinzuweisen. Die Hinterbliebenen wissen oft nicht einmal, weswegen der Vater, Bruder usw. verurteilt worden ist. Die Allerwenigsten sind im Besitz einer Kopie des Urteils. Sie wissen auch nicht, wo sie danach und nach eventuell weiteren Unterlagen recherchieren könnten. Würden sie einen Rechtsanwalt beauftragen, müßten sie diesen honorieren oder umständlich Beratungshilfe beantragen. Für die eigentliche Antragstellung ist nach der StPO die Möglichkeit von Prozeßkostenhilfe nicht vorgesehen. Im übrigen wäre es Zufall, wenn ein Angehöriger einen Rechtsanwalt finden würde, der sich mit dem Unrechtsaufhebungsgesetz und den Möglichkeiten archivalischer Recherchen auskennt. Die Einzelfall-Lösung ist nicht nur – als Freispruch zweiter Klasse - unbefriedigend, sie funktioniert vielmehr so gut wie gar nicht.

Bezeichnenderweise ist von der Einzelfallregelung, von einem Ausnahmefall (Urteil des Reichskriegsgerichts gegen Harro Schulze-Boysen) abgesehen, bislang, soweit ersichtlich, niemals Gebrauch gemacht worden. Dies nicht mangels Interesse der Hinterbliebenen, sondern wegen der dargelegten Schwierigkeiten. Bislang hat auch noch keine Staatsanwaltschaft die Möglichkeit genutzt, mit den Angehörigen der Verurteilten der in dem Buch von Professor Wette und Detlef Vogel (Das  letzte

Tabu) veröffentlichten Urteile Fühlung aufzunehmen, um sie auf die Möglichkeit einer Antragstellung aufmerksam zu machen. Zu der Feststellung der Aufhebung des Urteils des Reichskriegsgerichts vom 19.12.1942 gegen Harro Schulze-Boysen (Bescheid der Staatsanwaltschaft Berlin vom 24. Februar 2006 2 P Aufh. 3/05) ist es nur dadurch gekommen, dass der – als Erfahrungsjurist und Botschafter a. D. juristisch und historisch versierte – Bruder Hartmut Schulze-Boysen den Antrag gestellt hat. Die meisten anderen Hinterbliebenen sind überfordert.

Die wenigen Hinterbliebenen, die von der Möglichkeit wissen, dass und wie man einen derartigen Antrag stellen kann, mag das zugemutete Verfahren auch so unwürdig erscheinen, dass sie auf einen solchen Freispruch zweiter Klasse verzichten.

Auch diejenigen Politiker, nach denen die  Einzelfallregelung sich „hervorragend bewährt“ und bestens „geklappt“ habe (Bundestagsabgeordneter Norbert Geis), haben kein einziges Beispiel einer Einzelfallaufhebung anführen können. Dies gilt auch für den von der CDU für den Rechtssausschuß genannten Sachverständigen, Oberstaatsanwalt Stefan Böhner.  Die angebliche Praktikabilität der Einzelfallregelung konnte er nur im Konjunktiv beschreiben, ohne einen einzigen Anwendungsfall für

den Bereich der großen Generalstaatsanwaltschaft Hamm aufzeigen zu können. Dennoch verbürgt die Einzelfallregelung nach dem Abgeordneten Norbert Geis  ein „Höchstmaß an Gerechtigkeit“ (taz v. 25.5.2009) – eine Verhöhnung der Opfer und ihrer Angehörigen. Tatsächlich ist die Einzelfallregelung eine verkappte Verhinderung der Rehabilitierung der Ermordeten. Gut funktioniert sie allein im Sinn der Absicht der Rehabilitierungsgegner: die Rehabilitierung der Verurteilten bis zum Sankt Nimmerleinstag aufrechtzuerhalten.

Fällt es vielleicht gerade manchen Juristen besonders schwer, sich in die Lebenswirklichkeit der Rechtspraxis hineinzuversetzen? Ist dies der Grund, warum weder bei der Verabschiedung des Unrechtsbeseitigungsgesetzes 1998 noch bei den jetzigen Beratungen danach gefragt worden ist, ob und wie sich die Einzelfallregelung praktisch umsetzen läßt? Die Schwierigkeiten sind mir drastisch vor Augen geführt worden, als mich vor einiger Zeit die Tochter eines hingerichteten Soldaten um Rat bat. Außer von der Tatsache einer Erschießung wusste sie nicht, was ihrem Vater genau widerfahren war. Irgendeine Art von Todesurteil stand ihr in den vielen seitdem vergangenen Jahrzehnten nur als dunkler, bedrückender Schatten vor Augen.  Nur aufgrund meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit der „Kriegsverräter“-Problematik konnte ich ihr eine Auskunft geben. Ich konnte auch das Urteil beschaffen. Das gegen den Vater, Hermann Bode, ein in das Bewährungsbataillon 999 gezwungener Kommunist, ergangene Todesurteil, ist in dem Buch von Wolfram Wette und Detlef Vogel veröffentlicht. Von der Möglichkeit, die Aufhebung des Urteils feststellen zu lassen, wusste sie ebenso wenig wie davon, dass eine Staatsanwaltschaft und welche Staatsanwaltschaft dafür zuständig ist. Ich selbst müßte, um die genaue Zuständigkeit festzustellen, in der juristischen Literatur und sodann im Bundesgesetzblatt recherchieren, wenn ich als einer von den wenigen Experten  im Bereich der juristischen Zeitgeschichte nicht eine Kopie des Unrechtsaufhebungsgesetzes von 1998 zur Hand gehabt hätte. Ob ein „Feld, Wald- und Wiesen-Rechtsanwalt“ hier ebenso leicht hätte helfen können? Die Möglichkeit von Prozeßkostenhilfe ist für Anträge nach Art. 1 § 6 UnrAufhG nicht vorgesehen. Immerhin durfte ich, als Jurist, eine unentgeltliche Auskunft legal erteilen. Dies allerdings erst aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 29.7.2004, NJW 2004, 2662 und der entsprechenden Regelung des Dienstleistungsgesetzes von 2006, das mit einigen Ausnahmen den meisten Bundesbürgern die altruistische Rechtsberatung allerdings nach wie vor verbietet.

2.)
Wenn man es mit der Beseitigung nationalsozialistischen Unrechts im Wege der Einzelfall-Lösung ernst meint, bedarf es deshalb, sollten die Urteile nicht alsbald im Wege der pauschalen Rehabilitierung aufgehoben werden, einer praxistauglichen

Umsetzung der Einzelfallregelung.

Denkbar wäre folgende Möglichkeit: Nach § 6 Unrechtsaufhebungsgesetz vom 25. August 1998 kann die Staatsanwaltschaft die Aufhebung eines Urteils auf Antrag feststellen. Die Staatsanwaltschaften sind aber verpflichtet, die Feststellung von Amts wegen, also auch ohne vorliegenden Antrag, zu treffen, wenn ein berechtigtes Interesse dargetan wird.

Das berechtigte Interesse an der Aufhebung eines auf Kriegsverrat gestützten Urteils besteht zunächst im Interesse der verstorbenen (meist hingerichteten) Opfer bzw. der Hinterbliebenen, aber auch im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, damit Deutschland und die bundesdeutsche Justiz sich nicht nachsagen lassen müssen,  weiterhin sehenden Auges allerschlimmstes nationalsozialistisches Unrecht verewigt zu haben.

Wenn man die pauschale Regelung nicht will, man es aber mit der Einzelfall-Lösung ernst meint, und sie nicht bloß als eine verkappte Verhinderung einer Rehabilitierung mißbraucht, muß es eine Behörde oder sonstige Stelle geben, an die die sonst ohne Hilfe gelassenen Hinterbliebenen sich wenden können und die in den Fällen, in denen es nicht einmal überlebende Verwandte gibt, von Amts wegen für die Beseitigung des NS-Unrechts sorgt. Angesichts der Verabschiedung des Unrechtsaufhebungsgesetzes von 1998 ist unbegreiflicherweise versäumt worden, eine solche zentrale Stelle einzurichten. Hinsichtlich der Opfer der Kriegsverratsurteile wäre dazu die neben der Außenstelle des Bundesarchivs in Ludwigsburg fortbestehende Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Betracht gekommen, aber auch das Militärgeschichtliche Forschungsamt, auch wenn dies bislang nichts zur Aufarbeitung der Wehrmachtsjustiz unternommen hat, das entgegen dem Versprechen der Bundesregierung anläßlich einer Großen Anfrage des Jahres 1995.

Bis zu der Schaffung einer solchen Behörde bzw. der Übertragung entsprechender Befugnisse an eine solche Behörde wird Zeit vergehen. Deshalb ist eine Sofortmaßnahme erforderlich, die ohnehin geboten erscheint. Ob Pauschallösung oder Einzelfallregelung: Unzweifelhaft handelt es sich bei der  Rehabilitierung von Opfern der NS-Justiz um eine Bringschuld der Justiz. Es geht nicht an, die Opfer bzw. die Hinterbliebe ohne jegliche Hilfestellung und Beratung zu lassen und ihnen die schwierige Aufgabe zuzuschieben, die Voraussetzungen für eine Rehabilitierungsprüfung zu schaffen.

Deshalb müßten die Staatsanwaltschaften von sich aus tätig werden. Mit dem Inkrafttreten des Unrechtsaufhebungsänderungsgesetzes vom 23. Juli 2002 ist ein Rehabilitierungsbedürfnis im wesentlichen nur noch für die „Kriegsverräter“ geblieben. Ein großer Schritt, diesem Bedürfnis nachzukommen, ist durch die umfassende Forschungsarbeit von Professor Wolfram Wette geleistet worden.  Dort sind 39 Urteile abgedruckt. Den tatsächlichen Feststellungen dieser Urteile lassen sich durchweg der nach § 7 Abs. 2 Unrechtsaufhebungsgesetz von 1998 maßgebliche Wohnsitz des Verurteilten, also auch die zuständige Staatsanwaltschaft, entnehmen und dann etwa noch lebende Hinterbliebene ermitteln.  Bei diesen Verwandten müßte die Staatsanwaltschaft anfragen, ob sie einen Antrag nach § 6 stellen wollen. Sind alle Hinterbliebenen verstorben oder nicht zu ermitteln, müßte die Staatsanwaltschaft das Urteil von Amts wegen aufheben, weil das berechtigte Interesse an der Aufhebung eines Todesurteils wegen Kriegsverrats nicht verneint werden kann.

Nach Rechtslage, wie sie sich auch aus dem Ihnen vorliegenden Gutachten von Professor Dr. Hans Hugo Klein ergibt, sind die Voraussetzungen des Artikel 1 § 1 des Unrechtsaufhebungsgesetzes bei allen Urteilen ausnahmslos gegeben, ohne dass es einer Ermittlung von über die Feststellung des Vorliegens eines auf § 57 MStGb hinausgehender Tatsachen bedarf.

Ich rege deshalb an, auf dem Wege über die Landesjustizverwaltungen alle deutschen Staatsanwaltschaften auf die im Vorstehenden beschriebene Notwendigkeit, die Urteile im Rahmen des Möglichen aufmerksam zu machen. Als erste Maßnahme, für die Vorarbeiten auch im Bundesjustizministerium oder im Militärgeschichtlichen Forschungsamt geleistet werden könnten, liegt es nahe, wenigstens die genannten Urteile auf Hinweise auf den letzten Wohnsitz des Verurteilten zu sichten. Die entsprechenden Daten könnten dann gezielt an die jeweils in Betracht kommenden Staatsanwaltschaften weitergeleitet werden.

In nicht seltenen Fällen wird sich mangels Ermittelbarkeit von Hinterbliebenen und des letzten Wohnsitzes des Verurteilten überhaupt keine bestimmte Staatsanwaltschaft finden lassen, die der Pflicht, nach § 6 Abs. 1 Satz 2 eine Feststellung von Amts wegen zu treffen, nachkommen könnte. Auch dann darf man die Todesurteile nicht ewig bestehen lassen. Deshalb ist es Aufgabe des  insoweit nach § 6 Abs. 2, Satz 3 Unrechtsaufhebungsgesetz verpflichteten Bundesgerichtshofs, u. a. an Hand der Forschungsarbeiten von Wolfram Wette die betreffenden Fälle unverzüglich zu ermitteln und eine zur weiteren Behandlung zuständige Staatsanwaltschaft zu bestimmen. Ich bitte Sie, sehr geehrte Frau Ministerin, in diesem Sinne an den Herrn Präsidenten des Bundesgerichtshofs heranzutreten.

Vielleicht gelingt es Ihnen, sehr geehrte Frau Ministerin, aber doch noch, auch diejenigen Mitglieder der SPD-Fraktion des Bundestages zur Unterstützung des Rehabilitierungsanliegens zu bewegen, die von der Notwendigkeit der Aufhebung dieser nationalsozialistischen Terrorurteile zwar fest überzeugt sind, die aber sogar in dieser hoch ethisch konnotierten Frage allein aus hier nicht nachvollziehbaren koalitionspolitischen Erwägungen gegen ihr Gewissen stimmen sollen.

Wenn ich mir abschließend eine Bemerkung erlauben darf: Es beschädigt unser parlamentarisches System, wenn trotz höchstwahrscheinlich übergroßer Mehrheit ein überfälliges Gesetz allein aus parteitaktischer Ranküne nicht zustande kommt. Die Demokratie nimmt moralischen Schaden, wenn nach Art. 38 Grundgesetz allein ihrem Gewissen unterworfene Abgeordnete in überwältigender Mehrheit die Augen vor der historischen Wahrheit bewußt verschließen.

Für eine baldige Antwort wäre ich dankbar.

Um den grob irreführenden Behauptungen der Rehabilitationsgegner entgegenzutreten, werde ich dieses Schreiben auf meine Website setzen.

 

Mit freundlichen Grüßen

Ihr

Helmut Kramer