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Zu den Entschädigungsansprüchen der Opfer

Zu den Entschädigungsansprüchen der Opfer

Sind die zivilen Opfer militärischer Operationen rechtlich schutzlos? Zur Frage der Entschädigung der Opfer „humanitärer Interventionen“ und anderer Angriffskriege.

Wenn in den letzten Jahren die Massenmedien von Afghanistan berichteten, ist neben der Notwendigkeit weiterer Aufbau- und Stabilisierungsmaßnahmen auch von der zunehmenden Gefährdung der deutschen Truppe und von den inzwischen in Afghanistan teils unmittelbar bei Kampfhandlungen, teils auf andere Weise umgekommenen 55 gefallenen deutschen Soldaten regelmäßig berichtet worden, meist auch auf den ersten Seiten der Medien. Von den vor allem amerikanischen Luftangriffen zum Opfer fallenden vielen Zivilisten erfuhr man allenfalls beiläufig, als sei ihr Leben weniger wert. In den modernen Kriegen sind Soldaten längst nicht mehr die am stärksten gefährdete Gruppe. Waffentechnik und Waffeneinsatz sind von dem Grundsatz beherrscht, eigene Verluste um fast jeden Preis zu vermeiden. Aber erst das Bombardement auf die Tanklaster bei Kundus hat ins Blickfeld der Öffentlichkeit treten lassen, wie unverhältnismäßig hoch dieser Preis ist. Inzwischen besteht er in Tausenden von durch die Kampfhandlungen in Afghanistan umgekommenen Zivilisten und noch mehr Schwerverletzten. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2009 sollen insgesamt 432 Menschen ums Leben gekommen seien, durch Abwurf von Bomben aus in sicherer Höhe fliegenden Flugzeugen, zunehmend auch aus Drohnen, bei deren Steuerung die Piloten für die eigene Person nicht das geringste Risiko eingehen. Die Süddeutsche Zeitung spricht von durch die Vereinten Nationen in dieser Zeit gezählten 1.013 zivilen Opfern, in 310 Fällen davon sei der Tod von afghanischen Regierungstruppen oder den NATO-Verbündeten verschuldet worden. Im Irak-Krieg haben die USA sogar den Tod Hunderttausender und die Vertreibung von Millionen als voraussehbare Folge der militärischen Aggression in Kauf genommen.

Soweit ersichtlich, hat noch kein Völkerrechtswissenschaftler über die sonstigen Zweifel an den neuen Präventivkriegen hinaus ernsthaft die Frage gestellt, ob eine militärische Strategie, die den Schutz der eigenen Truppe weit über den Schutz einer überwiegend friedlichen Zivilbevölkerung stellt, nicht gegen das Kriegsvölkerrecht verstößt. Vor dem Massaker bei Kundus scheint diese Frage auch die Leitartikler der meist dienstbaren Massenmedien kaum interessiert zu haben.

 

Der zivilrechtliche Aspekt
Vernachlässigt in der Rechtswissenschaft ist auch die Frage nach der Entschädigung der Opfer und ihrer Hinterbliebenen. Nach Presseberichten ist die Bundesregierung grundsätzlich zu einer Entschädigung der zivilen Opfer des Bombardements auf die Tanklastzüge bei Kundus bereit und will mit den Anwälten der Hinterbliebenen und Überlebenden über die Höhe eines Schadensersatzes verhandeln.

So unabweisbar aus Gründen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit es ist, den Opfern zu helfen, so überraschend ist doch die Selbstverständlichkeit, mit der die Bundesregierung sich grundsätzlich zu einer solchen Regelung bereiterklärt hat. Denn bislang wurden alle im Gefolge von Auslandseinsätzen deutscher Streitkräfte – im Zweiten Weltkrieg in Griechenland und Italien sowie im Jugoslawienkrieg von 1999 – geltend gemachten Ansprüche von der Bundesregierung mit Unterstützung dienstbereiter rechtswissenschaftlicher Sachverständiger und des Bundesgerichtshofs zurückgewiesen. Die wohlfeile Begründung: Nach dem Völkerrecht stünden Ansprüche nicht den einzelnen geschädigten Menschen, sondern allein deren Heimatstaat zu. So geschah es im Fall der rücksichtslosen Bombardierung der Brücke bei Varvarin in Jugoslawien mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 2. November 2006. Mit anderen Worten: Die unmittelbare schreckliche, höchst reale Verbindung, die eine im Namen der Bundesrepublik abgeworfene Bombe zwischen der Bundesrepublik und den getroffenen Menschen schafft, bewirkt noch lange keine rechtliche Zuordnung im Sinne des Schadensersatzrechts. Es handelt sich um die auch in minder bedeutenden Angelegenheiten beliebte Zauberformel der mangelnden Zuständigkeit, mit der leistungsunwillige Behörden lästige Bittsteller von einer Stelle zur anderen verweisen, um sie im Ergebnis abzuwimmeln. Eine aus älteren Zeiten stammende Zauberformel, weitergeführt von staatsnahen Juristen, für die künstlich produzierte Begriffe mehr zählen als die Menschen, deren Rechte und Würde es nach dem Grundgesetz doch zu schützen gilt.

Wenn die Bundesregierung im Fall der Kundus-Opfer trotzdem zahlen möchte, hat das mehrere Gründe. Zum einen nutzt sie die Zahlung, um die angesichts der „robusten“ Militäraktion bei Kundus hellhörig gewordene deutsche Bevölkerung zu beschwichtigen. Zum anderen entgeht sie mit einer schnellen, im Wege des Vergleichs geleisteten Zahlung einem aufsehenerregenden und wahrscheinlich jahrelangen Zivilprozeß vor den deutschen Gerichten. Würde etwa der Bundesgerichtshof ein stattgebendes Urteil auf die grobe Amtspflichtverletzung der beteiligten Militärs stützen, wäre damit ein Präjudiz geschaffen, auf das andere Opfer militärischer Aktionen sich berufen könnten. Ein solches Musterurteil scheuen die Militärpolitiker wie der Teufel das Weihwasser. Dies auch um zu vermeiden, dass ein unabhängiges Zivilgericht einem deutschen Befehlshaber ein unverhältnismäßiges, rechtswidriges und schuldhaftes Vorgehen attestieren, also die Begehung eines Kriegsverbrechens bescheinigen könnte. Was aufgrund des bewußt lückenhaft geschafften deutschen Völkerstrafgesetzbuchs von 2002 in einem Strafprozeß ziemlich leicht vermieden werden kann, könnte in einem Zivilprozeß gelingen: Der Nachweis einer Pflichtverletzung und damit eines Kriegsverbrechens (vgl. auch den vorstehenden Artikel „Justiz im Dienst des Angriffskriegs“).

Allerdings selbst eine „ohne Anerkennung von Rechtspflichten“ geleistete Wiedergutmachung könnte Schule machen. Auch sind ISAF-Luftangriffe mit „Kollateralschäden“ wie bei Kundus in Afghanistan an der Tagesordnung, so wenig man darüber auch aus deutschen Medien erfährt. Aber nur ganz wenigen – weniger als 2 Prozent der Hinterbliebenen – wurde eine Entschuldigung oder eine Entschädigung zuteil. Würde sich die im Fall des Kundus-Massakers in Aussicht gestellte Regelung herumsprechen, könnte die bislang marginale Kostenbelastung der Bundeskasse erheblich anwachsen. Der jetzige Krieg in Afghanistan und die im Hinterkopf von Militärpolitikern schon geplanten künftigen Kriege würden sich dann verteuern. Die zusätzlichen Kosten müßten auf die eigenen Bürger abgewälzt werden. Schon als italienische Gerichte den Opfern der mörderischen deutschen Besatzungsmacht des Zweiten Weltkriegs in Griechenland und Italien ein Recht auf Schadenersatz zusprachen, befürchteten militärfreundliche Völkerrechtswissenschaftler eine „Büchse der Pandora“. Der Großkommentator der Süddeutschen Zeitung Stefan Kornelius nannte die von der Bundesregierung gemachte Zusage, sich auf Verhandlungen mit den Anwälten der Opfer von Kundus einzulassen, „eine der bedauerlichsten“ Entscheidungen nach dem Bombardement bei Kundus. Übrigens habe die Regierung in Kabul doch schon gezahlt, für jeden Toten 2.000 Dollar, eine „dem Ehrenkodex der Paschtunen“ vollauf genügende Summe (SZ v. 9.12.2009).

Tatsächlich könnte die Frage einer Entschädigung der Opfer von „Kollateralschäden“ durchaus anders geregelt werden als durch den von Stefan Kornelius befürchteten „Ablaßhandel“, und zwar durch eine noch weniger im Sinn der Befürworter leichtfertiger Militärinterventionen liegende Regelung: nämlich durch die Anerkennung eines der fatalen modernen Kriegsführung angepassten Völkerrechts, wonach zivile Opfer von Kriegshandlungen nicht auf den aussichtslosen Weg über ihren am Boden des Angriffskrieges liegenden Heimatstaat verwiesen werden dürften.

Dabei könnte dem heutigen Völkerrecht, fixiert man den Blick auf den schriftlichen Normenbereich, schon jetzt die Verpflichtung zu einer Entschädigung ziviler Opfer entnommen werden. Dafür sprechen sich inzwischen einige Völkerrechtswissenschaftler aus, wenn auch noch nicht so viele im Sinne einer „herrschenden Meinung“. Die Mehrzahl der Professoren verweigert sich noch. Es handelt sich um dieselben Wissenschaftler, die mit der Erfindung des äußerst dehnbaren Begriffs der „humanitären Intervention“ und unter Hinweis auf „werdendes Recht“ dem vom normierten Völkerrecht verbotenen Präventivkrieg das Wort geredet hatten. Jetzt aber sind sie den Regierungen bei der Abwehr von Schadensersatzansprüchen ebenso beflissen zu Diensten und widersprechen der überfälligen Anpassung des Völkerrechts an die neuen Formen der Kriegsführung. Einer Kriegsführung, bei der aus ebenso sicherer Höhe wie ohne die Möglichkeit einer Unterscheidung von Kombattanten und Zivilisten getötet wird. Dieselbe Bundesregierung, die sich zur Rechtfertigung von Angriffskriegen auf übergesetzliches Recht („humanitäre Intervention“) beruft, hat sich in internationalen Verhandlungen noch nie für eine übergreifende Entschädigungsregelung eingesetzt. Von dem jeder gesetzlichen Regelung zugrundeliegenden Gerechtigkeitsgedanken her gesehen, ist ein Regelungsbedarf unabweisbar. Es ist kein Grund ersichtlich, der einer völkerrechtlichen Regelung und, wenn ein internationales Abkommen nicht erreichbar ist, einer entsprechenden Ergänzung des Bürgerlichen Gesetzbuchs entgegensteht, wie sie der Grünen-Abgeordnete Jürgen Trittin vorgeschlagen hat. Wegen der Schwierigkeit, im Ausland agierenden Soldaten eine Pflichtverletzung nachzuweisen, reicht § 839 BGB (Schadensersatz wegen Verletzung einer „Amtspflicht“) nämlich nicht aus.

Die im Zeichen der von Präsident Obama geforderten „Erzwingung des Kriegsendes“ bevorstehende Truppen- und Waffenverstärkung wird zu einer weiteren Eskalation der Kämpfe in Afghanistan führen. Dann werden noch mehr unbeteiligte Zivilisten umkommen. Wenn ein Rechtsstaat wie die Bundesrepublik sich auf eine solche verschärfte Kriegsführung einlässt, ist umso mehr eine verbindliche gesetzliche Regelung geschuldet, wonach verletzten Zivilpersonen und den Angehörigen getöteter Zivilisten in jedem Fall ein Anspruch auf volle Entschädigung zusteht.

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Helmut Kramer, 23.12.2009

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