Startseite

Selbstanzeige Dr. Kramer

Selbstanzeige Dr. Helmut Kramer vom 18. Mai 1998

Schreiben an die Staatsanwaltschaft Braunschweig mit Selbstanzeige wegen Verstoßes gegen das Rechtsberatungsgesetz von 1935

Quelle: Betrifft JUSTIZ Nr. 55 - September 1998 S. 297 - 298

---------------------------------------------------------------------

Dr. Helmut Kramer
Richter OLG Braunschweig, i.R.

 

An die Staatsanwaltschaft Braunschweig

 

Betr.: Selbstanzeige im Hinblick auf Art. 1 § 1 RBerG

Sehr geehrte Damen und Herren!

Aufgrund der in den Bußgeldbescheiden gegen Rainer Scheer und Detlev Beutner und in der Hauptverhandlung vom 18. Mai 1998 geäußerten Rechtsansicht der Staatsanwaltschaft Braunschweig sehe ich mich veranlaßt, hiermit Selbstanzeige gegen mich mit dem Verdacht zu erstatten, wiederholt eine Ordnungswidrigkeit nach Art. 1, §§ 1,8 RBerG begangen zu haben.

Begründung:

Ich habe wiederholt - in einer weit größeren Anzahl von Fällen und in einem weit größeren Ausmaß, als dies den Betroffenen Scheer und Beutner zur Last gelegt wird - andere Bürger in Rechtssachen eingehend individuell beraten, ohne hierzu eine Genehmigung nach Art. 1 § 1 RBerG zu besitzen oder unter eine Ausnahme nach Art. 1, §§ 3, 6 und 7 RBerG zu fallen.

Im einzelnen:

  1. Bereits durch die Übernahme der Verteidigung von Detlev Beutner und Rainer Scheer in dem Verfahren vor dem Amtsgericht Braunschweig und indem ich mich in diesem Verfahren als Rechtsbeistand habe zulassen lassen, habe ich unter Zugrundelegung der sog. herrschenden Meinung gegen Art. 1 § 1 RBerG verstoßen. Dies schon im Hinblick auf die in diesem Fall entfaltete umfangreiche Verteidigertätigkeit. Auch habe ich mich, - auch wenn ich als "weißer Jahrgang" nicht selbst wegen Wehrdienstverweigerung verurteilt werden konnte, mich seit Jahren um mit den Worten des Präsidenten des Amtsgerichts Braunschweig (dessen Anzeige vom 21.12.1995) zu sprechen - "in besonderem Maße mit der Materie der Wehrdienstverweigerung befaßt. Offenbar gelte (ich) in Kreisen Betroffener als besonders sachkundig. Es liegt daher nahe, daß (ich) bei sich bietender Gelegenheit wieder zur Übernahme einer Verteidigung bereit sein werde". Dazu bin ich im Hinblick auf die Rechtsnot von Totalverweigerern sogar fest entschlossen. Nach überwiegender Rechtsprechung ist Geschäftsmäßigkeit der Rechtsbesorgung immer dann gegeben, wenn der Betreffende in der Absicht handelt, seine Rechtsbesorgungstätigkeit - sei es auch nur bei sich bietender Gelegenheit in gleicher Art zu wiederholen und sie dadurch zu einem dauernden oder auch nur wiederkehrenden Bestandteil seiner Beschäftigung zu machen (vgl. u.a. Hartmut König, RBerG, Essen 1993, S. 62).

  2. Geschäftsmäßigkeit kann bereits bei einer bIoBen Einzelhandlung vorliegen. Allerdings habe ich rechtsbesorgende Tätigkeiten häufig und in großem Umfang ausgeübt.

    In besonders großem Umfang bin ich tätig geworden in der Sache Erna Wazinski. Meine jahrelangen Bemühungen um die Aufhebung des Todesurteils des Sondergerichts Braunschweig vom 21. Oktober 1944 waren mit einem die Erledigung normaler Rechtsangelegenheiten übersteigenden Aufwand an Rechtsbesorgungstätigkeit verbunden. Zum einen brachte die Bearbeitung besondere rechtliche Schwierigkeiten mit sich. Denn das Landgericht Braunschweig hatte im Jahre 1965 in einem überaus gründlichen Beschluß festgestellt, daß das Todesurteil vom 21. Oktober 1945 rechtlich nicht zu beanstanden war. An der Geschäftsmäßigkeit meiner Handlungsweise ist auch deshalb nicht zu zweifeln, weil der Anstoß zu dem Wiederaufnahmeverfahren eigentlich von der Staatsanwaltschaft Braunschweig hätte ausgehen müssen, nachdem die von mir ins Feld geführten neuen Beweismittel durch Presse und Rundfunk bekannt gegeben worden waren. Ich habe mir also eine Tätigkeit "angemaßt", deren Erledigung pflichtgemäß eine berufliche Aufgabe der Braunschweiger Staatsanwälte war. Allein mein Antrag (Anregung) auf Wiederaufnahme umfaßt 34 Schreibmaschinenseiten. Die Sache Erna Wazinski war für mich auch eine fremde Rechtssache, da mich nach der herrschenden Rechtsprechung zu § 1 RBerG die gerichtliche Überprüfung von Todesurteilen gegen fremde Personen nichts anzugehen hat.

    Ich bin entschlossen, hinsichtlich mit Todesurteilen endenden Gerichtsverfahren des Dritten Reiches - allein das Braunschweiger Sondergericht hat 88 Todesurteile verhängt -weitere Wiederaufnahmeanträge zu stellen und dabei auch überlebende Verurteilte und ihre Verwandten rechtlich zu beraten.

  3. Seit Jahrzehnten berate ich Richterkollegen in Disziplinarverfahren. Rechtlich beraten in Disziplinarverfahren habe ich mehrere Kolleginnen und Kollegen von den 554 Unterzeichnern der Anzeige in der ZEIT vom 5. Februar 1987, in der die Unterzeichner ihren Respekt gegenüber den Teilnehmern der Richterblockade erklärt haben.

    So haben sich - dabei ich in maßgeblicher Funktion - die Richter der Richterblockade vom 12. Januar 1987, an der ich teilgenommen habe, in ihren Strafverfahren vor dem Amtsgericht Schwäbisch Gmünd intensiv untereinander in Strafrechts und Strafprozeßfragen beraten. Diese Beratungstätigkeit erstreckte sich auch auf die im Gefolge der Strafverfahren gegen die Blockaderichter eingeleiteten Disziplinarverfahren. Die Gruppe der Blockaderichter dürfte nach herrschender Meinung keine vom Erlaubniszwang befreite Vereinigung im Sinne des § 1 RBerG darstellen.

  4. Ich habe auch mehrere Richter wegen ihnen drohender Rechtsbeugungsverfahren beraten, darunter auch die Richterin Edda Frerker, Amtsgericht Syke. Inzwischen hat der Bundesgerichtshof den Freispruch von Frau Frerker durch das Landgericht Verden bestätigt.

  5. Wiederholt habe ich unentgeltlich im Bereich der Zeitgeschichte arbeitende Wissenschaftler in Rechtsfragen des Datenschutzes beraten, denen unter mißbräuchlicher Berufung auf den Daten bzw. Persönlichkeitsschutz die Einsicht in Akten zur NS-Justiz und über schwerbelastete NS-Juristen verwehrt worden ist.

  6. Immer wieder habe ich auch Freunde in meinem Bekanntenkreis und Nachbarn in unserem Wohnort (Straße Herrenbreite), die an mich mit der Bitte um Rechtsrat herantreten, in Rechtsdingen beraten.

  7. Schließlich habe ich wiederholt Familienangehörige - zu Lebzeiten meine Eltern; meine Kinder sowie andere Verwandte - in Rechtsdingen beraten und tue dies auch heute noch. Nach der Rechtsprechung des OLG Oldenburg kann eine moralische Verpflichtung zur Besorgung von Rechtsangelegenheiten selbst gegenüber engsten Familienangehörigen, nicht einmal gegenüber der eigenen Mutter und auch nicht einmal in einem bloßen Einzelfall anerkannt werden. Es handelt sich danach um eine völlig fremde Rechtssache; ein eigenes wirtschaftliches Interesse an einem Zivilrechtsstreit wird nicht einmal durch die Aussicht begründet, daß der Sohn seine Mutter unter Umständen einmal beerben wird (OLG Oldenburg NJW 1992, S. 2438). Entsprechendes nimmt die herrschende Meinung im Verhältnis des Rechtsberaters zu seinen volljährigen Kindern an.

  8. Ich habe in mehreren Fällen Totalverweigerer rechtlich beraten. Daß die Rechtsbesorgung und Rechtsberatung unentgeltlich geleistet wird - wie dies bei mir ausnahmslos der Fall ist - läßt nach herrschender Meinung das Merkmal der Geschäftsfähigkeit nicht entfallen.

 

Die besagte Rechtsberatung habe ich in zahlreichen Fällen sowohl schriftlich wie auch mündlich vorgenommen, dabei für andere auch Schriftsätze angefertigt.

Sämtliche Arten von Beratungen (mit Ausnahme der durch die Entscheidung des BVerfG abgeschlossenen Beratungen zur Richterblockade) führe ich bis in die heutige Zeit durch. Ich versichere, daß ich mich auch in Zukunft einer an mich gerichteten Bitte von Freunden, Verwandten und in Rechtsnot geratenen Bürgern zur Übernahme einer Rechtsbesorgung voraussichtlich nicht entziehen werde, und zwar deshalb, weil ich es in einer zunehmend nur auf Profit und eigenen Vorteil gerichteten Gesellschaft als eine sittliche Pflicht - nicht zuletzt für Juristen - ansehe, in Rechtsnot geratenen Bürgern mit Rechtsrat zur Seite zu stehen.

Der Umstand, daß ich Volljurist bin und daß ich bis zu meiner Pensionierung als Richter amtiert habe, befreit nach herrschender Meinung nicht von dem Erlaubniszwang nach § 1 RBerG (vgl. Rennen-Caliebe, RBerG, 2. Auflg. 1992, § 1, Rn. 14 m. weit. Nachw.); ob der Betreffende für die vorgenommene Rechtsbesorgung genügend rechtskundig und persönlich zuverlässig ist, ist für die Annahme einer Ordnungswidrigkeit unerheblich.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Kramer